«Convenience Food ist nicht grundsätzlich schlecht»

Lebensmittelexpertin Christine Brombach im Interview

Christine Brombach

Sie sind älter, als wir denken, und vor allem: viel verbreiteter. Aber was sind Convenience-Produkte eigentlich? Und warum ist Kochen Lebenskompetenz? Christine Brombach, 61, Professorin am Institut für Lebensmittel- und Getränkeinnovation der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur, gibt Auskunft.

Convenience Food ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Aber was ist Convenience Food eigentlich?

Christine Brombach: Die wenigsten wissen, dass wir Convenience-Produkte schon seit Jahrhunderten essen. Denken Sie nur an Wein, Käse, Brot oder Pasta – das sind alles Lebensmittel, die in irgendeiner Form schon vorbereitet sind, bevor wir sie im privaten Haushalt zubereiten. Wichtig zu verstehen ist aber auch, dass es viele verschieden Arten von Convenience Food gibt. Wir assoziieren mit dem Begriff häufig irgendein Fertigmenü, das man nur noch in die Mikrowelle geben muss. Aber die Wirklichkeit ist bunter. Darum ist es auch wichtig, zwei Dinge zu betonen. Erstens: Convenience Food ist nicht per se ungesund.

 

Und zweitens?

In den letzten fünf bis zehn Jahren hat man sich in der Forschung sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, was diese Produkte eigentlich gesundheitlich mit uns machen? Gibt es einen Zusammenhang mit den vielen Herausforderungen, die sich uns im gesundheitlichen, aber auch im nachhaltigen Kontext stellen?

 

Und – gibt es eine Antwort?

Keine einfache. Denn es gibt beim Convenience Food sehr unterschiedliche Verarbeitungsstufen. Aber schauen wir uns mal die Produkte an, die eine sogenannt ultrahochverarbeitete Form haben, Produkte also, für die man bereits verarbeitete Rohstoffe noch weiter verarbeitet. Oder anders gesagt: Produkte, die mit dem ursprünglichen Lebensmittel nicht mehr viel zu tun haben ausser vielleicht dem Namen. Ja, bei solchen Produkten lässt sich tatsächlich ein Zusammenhang zu ernährungsabhängigen Erkrankungen feststellen, allerdings ohne kausalen, nur mit einem korrelativen Zusammenhang.

 

Warum?

Weil sich diese Kausalität, dass ich etwas esse und deswegen krank werde, in der Ernährung nicht so leicht herstellen lässt.

 

Und diese ultrahochverarbeiteten Produkte gewinnen auf dem Markt an Bedeutung?

Das lässt sich feststellen, ja. Und es ist ja auch verständlich, denn häufig sind das Produkte mit einem sehr hohen energetischen Wert, aber einem geringen Anteil an sonstigen wichtigen Nährstoffen.

 

Zum Beispiel?

Nehmen wir Süssgetränke mit Orangegeschmack. Sie werden mit Sicherheit nicht einfach so 25 Gramm Zucker essen, richtig?

 

Richtig.

Aber Sie trinken vielleicht ein Glas Saft. Und ein Glas Saft kann durchaus der Menge von z.B. fünf Orangen entsprechen. Aber wenn Sie diese Orangen ganz verzehren, dann essen Sie die mit allen Bestandteilen, die so eine Frucht enthält. Beim Saftpressen aber werden bestimmte Aspekte entfernt, die Fruchtstückchen beispielsweise, damit am Ende diese klare Struktur des Safts entsteht. Dabei enthalten die Fruchtstückchen teilweise ganz wichtige Nährstoffe oder Nahrungsfasern. Generell lässt sich über hochverarbeitete Produkte sagen, dass sie toll schmecken, weil sie zum Beispiel sehr fetthaltig sind, was wir aus evolutionären Gründen mögen, oder sie sind sehr süss, was wir ebenfalls mögen. Oder sie haben diesen Umami-artigen Geschmack, also diesen herzhaften, fleischigen Geschmack, der auf einen Protein-, einen Eiweissgehalt hinweist, und auch das essen wir evolutionär bedingt gern.

 

Und das ist schlecht?

Ich sage nicht, dass wir solche Lebensmittel nicht essen dürfen. Klar dürfen wir das. Es geht um die Menge. Die Menge kann es problematisch machen.

 

Man unterscheidet Convenience Food nach Stufen, richtig?

Richtig, es gibt verschiedene Stufen, verschiedene Skalen, da herrscht nicht überall Einigkeit.

 

Es heisst, etwa 80 Prozent der Lebensmittel, die wir kaufen, sind in irgendeiner Form vorbereitet.

Das stimmt. Convenience Food ist nicht grundsätzlich schlecht. Es gibt im Convenience-Bereich viele Produkte, die gesund sind, ich denke an gerüsteten Salat, Tiefkühlgemüse, Tiefkühlfrüchte, das ist alles auch von den Nährwerten her spannend, gesund und ausgewogen.

 

Sie selbst greifen zu Hause auch mal in die Tiefkühltruhe, statt dass Sie Gemüse selbst rüsten und zuschneiden?

Aber natürlich tue ich das! Ich bin berufstätig, habe drei Kinder grossgezogen. Convenience heisst ja nichts anderes als Bequemlichkeit. Oder netter formuliert: Es ist gesparte Zeit. Wenn ich etwas habe, das ich nur noch aufwärmen muss, erspart es mir den Aspekt des Rüstens oder auch des aufwendigeren Kochens. Wir leben in unseren hochindustriell geprägten Ländern in einer zeitknappen Umgebung. Da konkurrieren bestimmte zeitliche Anforderungen. Und vielen stellt sich die Frage: Wie schaffe ich es in meinem vollgetakteten Tag, dass am Abend etwas Verzehrfertiges auf dem Teller liegt?

 

In der Schweiz verwenden wir im Durchschnitt 38 Minuten pro Tag fürs Kochen.

Seien wir ehrlich: Bestimmte Zubereitungsarten brauchen einfach länger als 38 Minuten. Hülsenfrüchte brauchen allein zum Kochen bis zu 60 Minuten, und davor haben Sie sie noch 12 Stunden einweichen müssen. Aber eine Dose öffnen und schnell ein leckeres Hummus zubereiten – das liegt drin.

 

Wie hat sich die Zeit, die wir in der Küche verbringen, über die Jahre verändert?

Dazu gibt es leider keine belastbaren Studien, aber es liegt auf der Hand, dass wir früher länger in der Küche standen: Wir mussten anfeuern, dann das Gemüse aus dem Keller holen, es von der Erde befreien, es waschen, schälen, rüsten. Genau hier kommen uns Convenience-Produkte heute so entgegen, und darum fände ich es falsch, wenn wir Convenience Food nur als «schlecht» oder nur als «gut» bezeichnen würden. Nein, man muss es immer genauer betrachten.

 

Wir als Konsumentinnen und Konsumenten sind gefragt?

Wir müssen uns natürlich darauf verlassen können, dass die Herstellerinnen und Hersteller ebenfalls ihren Beitrag leisten, uns möglichst gute Lebensmittel zu verkaufen, die gewissen Erwartungen und Richtlinien entsprechen. Aber ja – wir müssen uns vor allem auch selbst immer wieder fragen: In welcher Situation will ich alles selbst zubereiten, und wo bin ich bereit, Abstriche zu machen? Ich spreche in diesem Zusammenhang immer vom Viereck. Mein Kochentscheid muss meinen gesundheitlichen, meinen geschmacklichen, meinen zeitlichen und meinen Werte-Kontexten entsprechen. In diesem Viereck halten wir uns auf, mal berücksichtigen wir stärker den gesundheitlichen Aspekt, mal stärker den zeitlichen. Aber dessen sollten wir uns bewusst sein.

 

Das erfordert Kochkompetenz.

Und ich meine, dass es daran häufig mangelt. Es braucht praktische Kompetenzen, und es braucht die Bereitschaft, sich mit der eigenen Ernährung auseinanderzusetzen. Wenn ich nicht die Zeit habe, um von Grund auf eine Tomatensosse zu kochen – kann ich vielleicht eingekochte Tomaten kaufen, ungesüsst und ungesalzen, und dann weitere Menübestandteile selbst machen? Oder wenn ich einen fertig gerüsteten  Salat kaufe – kann ich ja die Sauce herstellen? Ich kann nicht alles an die Industrie abdelegieren, in der Küche sollte ich selbst denken, was zu mir passt, was für mich gesund ist. Und dazu braucht es Bildung. Übers Kochen, übers Essen, über Gesundheit.

 

Eine Aufgabe für die Schule?

Leider ist der Anteil des praktischen  Kochunterrichts in den Schweizer Schulen eher zurückgegangen. Ich meine nicht, dass wir alle wissen müssen, wie man einen Schmorbraten zubereitet. Das ist nicht für alle bedeutsam. Was ich für notwendig halte, ist ein Grundverständnis übers Essen, eine Grundkompetenz des Kochens, und das ist tatsächlich so etwas wie eine Lebenskompetenz. Davon bin ich fest überzeugt. Denn wenn wir über solche Kompetenzen verfügen, dann kann man sagen: Convenience-Produkte gehören dazu. Aber man sollte sie so auswählen, dass sie kombinierbar sind mit den verschiedenen Aspekten unseres Werte-Vierecks.

 

Es gibt einen eindeutig feststellbaren Trend zu mehr Convenience Food, das zeigen Daten aus dem Markt. Gibt es auch einen Gegentrend?

Natürlich. Corona war nicht der Auslöser, aber der Katalysator dafür: Man konnte feststellen, dass die Menschen wieder anfingen, mehr darüber nachzudenken, was bei ihnen auf den Teller kommt. Auch weil man durch die Schliessung von Betriebskantinen und Restaurants vorübergehend schlicht dazu gezwungen war, selbst zu kochen. Gleichzeitig stiegen allerdings auch die Zahlen der Lieferservices, das wäre dann der Gegentrend zum Gegentrend (lacht).

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